Im Frühsommer 1913 wurden weite Teile Europas von heftigen Unwettern mit Stürmen, Wolkenbrüchen und Hagelschauern heimgesucht, die vielerorts zu Überschwemmungen und zur Vernichtung der Ernte führten. Darüber berichteten die Tages- und Wochenzeitungen ebenso wie über Kriminal- und Unglücksfälle und die jüngsten „Sensationen“ vom politischen und militärischen Parkett: über den Spionagefall des Oberst Redl, den „Jubiläumsbesuch“ des Grafen Zeppelin bei Kaiser Franz Joseph in Wien (samt Landung des Luftschiffes „Sachsen“), über die Adria-Ausstellung im Prater, die politischen Wirren am Balkan und die bevorstehende Sommerfrische des Kaisers in Bad Ischl. Aber dann, gegen Ende Juni, häuften sich plötzlich Meldungen aus der Provinz, wonach auf den Almen im steirisch-kärtnerischen Grenzgebiet ein geheimnisvolles „Untier“ wüte.
Bei Hirschegg fand man frisch gerissenes Wild. Die Jäger verdächtigten zunächst wildernde Hunde und waren sogleich fest entschlossen, auf ähnliche Vorkommnisse zu achten. Die aber hatte es im Gebiet der Stubalpe schon kurz nach den ersten Almauftrieben gegeben. Ein unbekanntes Tier hatte im Laufe von zwei Nächten insgesamt 27 Schafe getötet. Auch danach riss die Serie nicht ab. Schon nach wenigen Wochen gingen 80 Schafe, 15 Rinder und zwei Fohlen auf das Konto des geheimnisvollen Räubers, der nun immer häufiger zwischen den steirischen und den Kärntner Almen wechselte.
Die enormen und entsprechend beklagten Schäden alarmierten nicht nur die Bauern und die Jägerschaft, sondern auch die Behörden, die Zeitungen und die Öffentlichkeit. Überall wurde darüber spekuliert, welchen Tieren derartige Blutbäder zuzutrauen wären. Die Rede war von Wölfen, Luchsen oder einem Bären, und weil die Fantasie angesichts des öffentlichen Interesses immer wildere Kapriolen zu schlagen begann, wurden bald auch entflohene oder absichtlich freigelassene Tiere einer „Menagerie“ in Betracht gezogen: Hyänen, Leoparden, Puma, Panther und Löwen.
Die Behörden unternahmen jedenfalls ihr Bestes, um der wahren Ursache auf die Spur zu kommen. Aber das war, wie die folgenden Monate noch zeigen sollten, kein leichtes Unterfangen. Dafür gab es mehrere Gründe: Zum einen war das betroffene Gebiet recht groß, reichte von der Stubalpe über den Obdacher Raum, die St. Leonharder Alm, die Hebalm und die Weinebene bis ins Herz des Koralpengebietes, wobei zunächst die steirische Seite stärker betroffen war. Zum anderen waren die meisten dieser Almregionen unwegsam, und dichte Wälder und tiefe Schluchten erschwerten jede Suche.
Außerdem kam es im Laufe der Zeit immer öfter zu jenen Diskrepanzen zwischen Jägern und Bauern, über die Gustav Schuster, Herausgeber der angesehenen Jagdzeitung „Halali“ und Leiter einer der ersten großen Jagdexpeditionen nach dem geheimnisvollen Untier, berichtete: „Leider geschieht es nur zu oft, dass die Bauern, die ziemliche Gleichgültigkeit zeigen, erst nach Tagen den Abgang eines Stückes (Vieh) bemerken und das Raubtier unterdessen, wenn der Kadaver gefunden, sich schon längst in ein anderes Gebiet begeben hat. Andererseits kommt es auch vor, wie wir es selbst zu unserem Leidwesen erfahren mussten, dass falsche Nachrichten zu einem stundenlangen Marsche veranlassen; kommt man dann zu dem betreffenden Bauern, so heißt es dann in ganz gleichgültigem Tone: Ja, bei uns is nix g’schegn.“
Eine Belohnung wird ausgesetzt
Bis Mitte August 1913 soll der „Bauernschreck“, wie man das Untier mittlerweile nannte, insgesamt 23 Rinder und 217 Schafe gerissen haben, bis Anfang September belief sich die Schreckensbilanz dann sogar auf 94 Rinder und 380 Schafe. Angesichts dieses Ausmaßes zweifelte kaum noch jemand daran, dass hier gleich mehrere gefährliche Raubtiere ihr Unwesen trieben. Immer öfter berichteten Bauern über die Sichtung von Löwen und Wölfen, erfahrene Jäger hatten in der Ferne etwas großes, katzenartiges gesehen, und eine Gruppe von Ausflugsgästen wurde mitten in der Nacht durch donnerndes, furchterregendes Gebrüll aus dem Schlaf gerissen.
Das „Grazer Volksblatt“ und die Wiener „Neue Zeitung“ präsentierten ihren Lesern die Vermutung, dass wohl „mehrere Raubtiere durch Bosheit im Stubalpengebiet entkommen sind. Der Verdacht verdichtet sich bereits derart, dass die Geschädigten ihre Schadenersatzansprüche vorbereiten können.“ (Neue Zeitung, 4. 8. 1913). Die Meldung basierte auf dem Gerücht, dass eine seit Jahren immer wieder durch das Land ziehende „Menagerie“ in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und schlussendlich von einem Konkurrenten aufgekauft worden sei. Aus purer Bosheit habe der ehemalige Besitzer einige gefährliche Tiere freigelassen.
Obwohl keine der behördlichen Nachforschungen den Wahrheitsgehalt der Geschichte bestätigen konnte, hielt sich der Verdacht hartnäckig und tauchte auch später immer wieder auf. Die Behörden intensivierten ihre Maßnahmen, setzten einen Koordinator ein und wiesen die über 170 in den betroffenen Gebieten stationierten Gendarmen an, die Jäger zu unterstützten. Die Bezirkshauptmannschaft Voitsberg und die Statthalterei Graz setzten eine Prämie von 400 Kronen für die Erlegung des „Bauernschrecks“ aus. Dazu kamen bald 300 Kronen vom Minister für Inneres und 40 Kronen von privater Hand. Damit belief sich die in Aussicht gestellte Belohnung Anfang Oktober auf die stattliche Summe von 740 Kronen (lt. Österreichischem Staatsarchiv erhielt man 1913 für eine Krone drei Kilogramm Brot; ein Herrenanzug kostete 45 Kronen). Für den Fall, dass es sich tatsächlich um mehrere Raubtiere handle, behielt sich die Statthalterei Graz das Recht vor, über die Aufteilung der Prämie zu bestimmen.
Weil die Bauern ihr Vieh angesichts der Gefahr früher als sonst von den Almen holten und die Jäger bis in den Herbst hinein erfolglos blieben, bestand die Sorge, dass hungrige Raubtiere bei Einbruch des Winters bis in die Niederungen gelangen und dort Menschen gefährlich werden könnten. Eine Befürchtung, die sich schon bald darauf zu bewahrheiten schien.
Fortsetzung folgt
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