Im Mai 1898 wurde der aus Wolfsberg stammende Handwerker Hubert Frankl über Nacht berühmt. Seine Heldentat: in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien in der Nacht und im Geheimen einen der beiden Haupttürme der Votivkirche von außen zu erklimmen.
Man schrieb den Mai 1898, als ganz Wien tage- und dann noch wochenlang über einen bemerkenswerten Heldenstreich sprach, über den auch in den lokalen und überregionalen Zeitungen berichtet wurde. Was war geschehen? Am frühen Morgen des 8. Mai, einem Sonntag, hatte sich zunächst einem patrouillierenden Schutzmann, dann der wachsenden Zahl schaulustiger Passanten am Votivkirchenplatz ein vollkommen unerwartetes Bild geboten. Am linksseitigen Turm der zweithöchsten Kirche Wiens flatterte ganz oben, an normalerweise unzugänglicher Stelle eine große, schwarz-gelbe Kaiserfahne im Morgenwind. Niemand konnte sich zunächst erklären, wie sie dorthin gekommen war.
Den ganzen weiteren Sonntag drängten sich immer mehr Menschen auf dem Platz, um das „Wunder“ mit eigenen Augen zu sehen, das letztlich nur die verrückte Tat eines außerordentlich geschickten Kletterers sein konnte. Weder Zeit noch Ort, soviel war klar, waren willkürlich gewählt. Denn in Wien und fast überall in Österreich-Ungarn feierte man in diesen Tagen das 50-jährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs I. Und dazu passte es nun einmal gut, dass einer dem Monarchen in der Nähe jenes Platzes huldigte, auf dem er im Februar 1853 nur ganz knapp und wohl durch göttliche Fügung einem hinterlistigen Anschlag auf sein Leben entkommen war. Zum Dank für seine Errettung hatte man danach die Votivkirche erbaut, die seither nicht nur eine der schönsten Kirchen Wiens, sondern auch einer der bedeutendsten neugotischen Sakralbauten der Welt war.
Ohne jede Hilfsvorrichtung den Blitzableiter hinauf
Nach dem sonntäglichen Rätseln über den geheimnisvollen Fahnenhisser wussten die Zeitungen schon am darauffolgenden Montag mehr: Der Täter, berichteten sie, habe sich noch am Sonntagabend in der nahen Polizeidirektion gestellt und alles zu Protokoll gegeben. Es handle sich um den ursprünglich aus Wolfsberg in Kärnten stammenden, jetzt 35 Jahre alten Turmdachspengler Hubert Frankl, der schon seit einiger Zeit in Wien lebe. Frankl sei ein kräftiger, über 1,80 Meter großer Mann, verheiratet, Familienvater und habe als Spengler schon am Bau und der Instandsetzung von Hunderten von Turmdächern in Wien, Niederösterreich, der Steiermark, Kärnten und Ungarn mitgewirkt. Seine Frau sei übrigens in seinen Plan eingeweiht gewesen.
Den Polizisten erzählte Frankl, wie er samstagnachts zur Votivkirche gekommen war, die Schuhe ausgezogen und diese seinem Begleiter, einem jungen Kollegen, zur Aufbewahrung übergeben hatte. Dann habe er sich die schwere Fahne auf den Rücken gebunden, habe die lange Fahnenstange eng an seinem Körper befestigt und ein Seil bis zum Ausläufer des Blitzableiters geworfen.
Der eigentliche Aufstieg begann kurz nach Mitternacht. Zuerst schwang er sich zum Blitzableiter hoch, dessen dünne Eisenstangen er dann dazu benutzte, um immer weiter in die Höhe zu gelangen. So arbeitete er sich von Pfeiler zu Pfeiler und von Dachvorsprung zu Dachvorsprung weiter vor. Selbst fast unpassierbare Hindernisse wie ein Steingeländer am Turm, durch das er sich nur mit größter Kraftanstrengung hindurchzwängen konnte, meisterte er mit Bravour.
Als er schließlich die erste der Turmrosetten erreichte, blies der Wind schon so kräftig, dass er befürchten musste, jeden Augenblick die Fahnenstange oder sogar das Gleichgewicht zu verlieren. Zu diesem Zeitpunkt blutete er bereits an Händen und Füßen, die er sich an Turmverzierungen und rostigem Eisen wund gerissen hatte. Trotzdem ließ er sich nicht beirren und kletterte weiter.
Nachdem er die zweite Turmrosette und bald auch das Turmdach bezwungen hatte, dauerte es nicht mehr lang, bis er am Ziel war. Er setzte sich auf die oberste, etwa 80 Zentimeter breite Steinverzierung, wobei er ständig darauf achten musste, dass ihn der Wind nicht doch noch in die Tiefe riss. Als großes Problem stellte sich auch die Kälte heraus, die er bis auf die Knochen spürte und die es ihm fast unmöglich machte, die Fahne vom Rücken loszubinden. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, die Stange aufrichten, mit einer Schnur an der Turmkrone zu befestigen und die Fahne zu hissen. Als sie endlich frei im Wind flatterte, schlug es gerade 2 Uhr.
Nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Fahne gut fixiert war, trat er – auf dieselbe Weise, wie er gekommen war – den Rückweg an. Kurz nach 2.45 Uhr war er wieder am Kirchplatz angekommen, wo ihn sein Begleiter erwartete. Frankl zitterte jetzt am ganzen Körper.
Frankl ist berühmt, ärgert sich aber über einen Nachahmer
Durch die zahlreichen Zeitungsberichte war Hubert Frankl innerhalb kürzester Zeit ein berühmter Mann, was sich, wie er hoffen durfte, äußerst positiv auf das von ihm angepeilte Geschäft als selbstständiger Turmdachspengler und -restaurator auswirken würde. Tatsächlich erfuhr die Öffentlichkeit, dass bereits mehrere lukrative Aufträge auf ihn warteten. Die Zeitungen berichteten aber auch, dass Frankl den Plan für seine Tat wohl schon seit Jahren mit sich herumgetragen und nur einen besonders günstigen Augenblick für dessen Ausführung abgewartet hatte. Der eigentliche Anstoß zu dem waghalsigen Unternehmen dürfte seinem früheren Chef, dem Turmdachreparateur und Anstreicher Josef Pircher, zuzuschreiben sein, der 1886 auf ganz ähnliche Weise berühmt wurde, als er nämlich bis zur Spitze des Stephansturms kletterte (137 Meter), um dort mit dem Hissen einer Fahne den kaiserlichen Geburtstag zu feiern.
Hubert Frankls Rechnung schien 1898 zwar ebenfalls aufzugehen, aber die Geschichte war noch nicht zu Ende. Denn nur wenige Tage nach seiner Turmbesteigung war die Fahne plötzlich wieder von der Turmspitze verschwunden. Die Kirchenverantwortlichen versicherten sogleich, niemand habe den Auftrag zu ihrer Entfernung gegeben. Zunächst verdächtigte man also Frankl selbst, noch einmal auf den Turm geklettert zu sein. Der aber stritt das ab und stellte sich alsbald erneut bei der Polizei ein – diesmal um Anzeige zu erstatten. Ein Unbekannter habe seine Fahne ohne Erlaubnis von der Kirchturmspitze entwendet. Den Schaden, der ihm dadurch erwachsen sei, bewertete Frankl mit 18 Gulden. So viel habe die Fahne gekostet.
Einige Tage und zahlreiche Zeitungsberichte später stellte sich der wahre Übeltäter. Es war der arbeitslose Seilkünstler Heinrich Pribyl, der sich durch seine Nachahmungstat mit umgekehrtem Vorzeichen ebenfalls Berühmtheit erhofft hatte. Nachdem die Fahne von Pribyl zurückgegeben war, verzichteten sowohl der Turmdachspengler Frankl als auch die Behörden auf eine weitere gerichtliche Verfolgung.
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